Wer macht eigentlich Schule?

Gerade beim Berufsbild „Lehrer:in“ haben viele Menschen viele Meinungen. Das Klischee der „Immer-Urlaubenden“, weil man ja „so viel Ferien“ habe, hält sich hartnäckig. Auch ich muss zugeben, dass ich nicht völlig frei von Vorurteilen war. Immerhin gehören Erzieher:innen und Lehrer:innen zu den ersten Berufsbildern, die man als Kind intensiv erlebt. Lehrer:innen begleiten uns – je nach Schulform – bis zu 11 oder 12 Jahre. Welches Bild man in dieser Zeit von ihnen mitnimmt, prägt sicherlich auch die Haltung gegenüber dem Beruf im Erwachsenenalter.

Ich durfte beide Seiten erleben: engagierte, inspirierende Lehrer:innen, die unterstützen und motivieren. Aber auch solche, denen Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben stand, die nie ein Auge zudrückten oder Schüler:innen eher entmutigten. Natürlich sind Lehrer:innen nicht die einzigen, die junge Menschen prägen. Aber sie sind ein entscheidender Teil eines Systems, das auf das formbare Selbst von Kindern und Jugendlichen einwirkt.

Um diesen Beruf besser zu verstehen und einen Einblick hinter die Schul-Kulissen zu gewinnen, habe ich mit Carina gesprochen. Sie ist Lehrerin in Teilzeit an einer weiterführenden Schule in NRW. Carina unterrichtet Englisch und Französisch, bald auch Kunst. Ihr Berufsalltag dreht sich um weit mehr als Grammatikregeln oder Klassenarbeiten.

„Lehrerin sein ist eigentlich mega, weil man noch das Gefühl hat, man kann etwas verändern.
Es geht nicht um Wachstum oder Zahlen, wie in der freien Wirtschaft. Es geht um Menschen.“

Arbeitszeit

Carina ist genau die Lehrerin, die man sich selbst gewünscht hätte. Im Gespräch merke ich: Sie liebt ihren Beruf. Und das trotz der vielen Herausforderungen, die ihr das marode Schulsystem in den Weg legt. Eine davon ist die Art und Weise, wie ihre Arbeitszeit berechnet wird.

Carina arbeitet offiziell in Teilzeit. Konkret sind es 18 Unterrichtsstunden. Diese Unterrichtsstunden werden mit einem Faktor von 1,75 bewertet. Simpel gesagt: 18 x 1,75 ergibt eine rechnerische Arbeitszeit von 31,5 Stunden pro Woche. Dieser Faktor soll anteilig auch die Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts abdecken. Doch in der Praxis sieht es anders aus.

Denn vieles, was nicht unmittelbar zum Unterricht gehört – Korrekturen, Elterngespräche, Konferenzen, Ausflüge, Arbeitskreise, Verwaltungsaufgaben, Ausflüge oder Unterrichtsvorbereitung – wird durch diesen Faktor oft nicht realistisch erfasst. Gerade Lehrkräfte mit sogenannten Korrekturfächern leisten deutlich mehr, ohne dass sich das in der Bezahlung oder Arbeitszeitregelung widerspiegelt. Auch Entlastungsstunden, die etwas abfedern sollen, sind längst nicht überall etabliert.

Dabei gäbe es längst eine gesetzliche Grundlage: Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2019 sowie durch das Arbeitsschutzgesetz besteht die Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung. Doch wie so oft fehlt die konkrete, praxisnahe Umsetzung.

Mein erster Berührungspunkt mit Zeiterfassung war während der Schulzeit – in einem Aushilfsjob bei McDonald's: Dort gab es eine klassische Stempelkarte. Später, in einem Schuhladen, in dem ich als Aushilfe gearbeitet habe, war meine Arbeitszeit durch feste Schichten klar begrenzt – mein Einsatz endete, sobald die Schicht vorbei war. Es gab eine klare Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit.

Später lernte ich die Zeiterfassung in Agenturen kennen: Dort wird jede Minute akribisch in einer Software dokumentiert – nicht nur zum Schutz der Mitarbeitenden, sondern vor allem, um Arbeitszeit mit Projekterträgen abgleichen zu können. Es geht darum, wie wirtschaftlich ein Projekt oder ein Kunde war. Arbeitszeit wird hier nicht nur kontrolliert, sondern systematisch bewertet. In der Schule jedoch? Fehlanzeige. Carina berichtet, dass Mehraufwand kaum dokumentiert wird; und wenn doch, selten zum fairen Ausgleich führt.

Pilotprojekt in Bremen: Kommt die Arbeitszeiterfassung?

Ein Hoffnungsschimmer: Als erstes Bundesland plant Bremen eine Pilotphase zur Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte – Start soll das Schuljahr 2026/2027 sein. Damit reagiert das Land auf das EuGH-Urteil von 2019, das alle EU-Staaten verpflichtet, ein objektives System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Doch bundesweit geht die Umsetzung nur schleppend voran – gerade im Schulbereich. (Quelle: Deutsches Schulportal)

Querstellen ist leichter als queer sein.

Um der hohen Belastung durch Korrekturfächer zu entgehen, übernehmen viele Lehrkräfte sogenannte Zusatzaufgaben. Diese sollen den Stundenumfang senken – führen aber oft zu anderer Verantwortung. Gleichzeitig ermöglichen sie, sich im Kollegium über die fachliche Tätigkeit hinaus zu profilieren. Carina nennt das ihre „Nische“ – ein Thema, in dem man Expert:in ist, oder sich dazu entwickelt.

In ihrem Fall ist das die Gleichstellungsarbeit: Carina ist inzwischen Ansprechpartnerin für Gleichstellungsfragen an ihrer Schule. In dieser Rolle bringt sie Themen wie Alltagsrassismus, Gendergerechtigkeit oder intersektionalen Feminismus ins Kollegium und stößt damit nicht immer auf offene Ohren.

„Ich habe mal eine Präsentation zu genderbasierter Gesprächsdynamik gehalten –
das hat gereicht, um bei einem Kollegen massiven Widerstand auszulösen.“ 

Man möchte meinen, dass Schule ein Ort ist, an dem wir lernen und wachsen – auch im Umgang miteinander. Doch Carina erlebt bei vielen dieser Themen nur begrenzten Fortschritt. Begriffe wie „Gleichstellung“, „Vielfalt“ oder „Diversität“ existieren zwar in Leitbildern – doch im Alltag bleiben sie oft Lippenbekenntnisse.

Das zeigt sich zum Beispiel im Umgang mit Schüler:innen, die ihre Pronomen, und damit meist einhergehend, ihren Namen ändern. Carina erzählt von Schüler:innen, die den Mut aufbringen, zu ihr zu kommen und offen darüber zu sprechen – weil sie wissen, dass sie dort ernst genommen werden. Umso schwerer wiegt es, wenn andere Lehrkräfte die Umstellung im Alltag nicht überführt bekommen.

„Deadnames sind dann teils noch in Kurslisten noch im Gebrauch“, sagt Carina. Der schulische Kontext ist oft zu starr, um auf solche Veränderungen sensibel zu reagieren. Das bedeutet: Schüler:innen werden immer wieder mit ihrem alten Namen konfrontiert. Für die Betroffenen ist das verletzend – und für Carina ein Zeichen dafür, wie wenig selbstverständlich Vielfalt im Schulalltag gelebt wird.

Wer lehrt Demokratie und welche Kompetenzen benötigt man, um sie am Leben zu halten?

Wo Lehrkräften Fortbildungen fehlen, fehlt es oft auch an demokratischer Bildung für Schüler:innen. Denn strikte Lehrpläne lassen wenig Raum für Themen wie Vielfalt, Mitbestimmung oder kritisches Denken. Es fehlt an Zeit, an Raum – und an der entsprechenden Ausbildung der Lehrer:innen, erklärt Carina. Und die Themen sind da, vielleicht komplexer, seitdem es “Schule” gibt. Doch sie gehen im Stoff unter.

Dabei sind die Themen da. Vielleicht sogar drängender und komplexer als je zuvor. Doch sie gehen im Stoff unter.
Ein Beispiel: politische Bildung. Sie findet im Schulalltag kaum statt. Einer der Gründe ist der weit verbreitete Irrtum rund um den Beutelsbacher Konsens – das pädagogische Prinzip der politischen Neutralität. Viele Lehrkräfte interpretieren es so, dass sie sich politisch gar nicht äußern dürfen.

„Es gibt einen großen Irrtum – es heißt, Lehrkräfte dürfen sich nicht politisch äußern.
Aber ich habe doch einen Eid geschworen, demokratische Werte zu vermitteln!“ 

Carina wünscht sich neue Fächer – zum Beispiel: Empathie, gewaltfreie Kommunikation oder Medienkompetenz. Die technischen Mittel sind vielerorts vorhanden: Smartboards, Tablets, digitale Lernplattformen. Was fehlt, sind Konzepte, wie mit diesen Mitteln sinnvoll und kritisch gearbeitet werden kann.

„Die Kinder verstehen zum Teil nicht, was sie da lesen – oder was eigentlich hinter einem Post steckt“, erzählt Carina. „Sie wissen oft nicht, welchen Influencern sie vertrauen können oder was ein viraler Post überhaupt bezweckt.“

Medienkompetenz bedeutet 2025 weit mehr als die Fähigkeit, ein Tablet zu bedienen. Es geht um Urteilsfähigkeit, digitale Ethik, Quellenkritik. Doch all das wird im aktuellen System nicht systematisch vermittelt – sondern nur dann, wenn sich einzelne Lehrkräfte zusätzlich Zeit dafür nehmen. 

Schule müsste Kinder stärker auf ein demokratisches, diverses und kritisches Miteinander vorbereiten – und auf eine sich wandelnde Arbeitswelt. Doch das System ist in vielem noch veraltet. Wo sich etwas bewegt, ist es meist dem Einsatz engagierter Lehrkräfte zu verdanken. Strukturelle Reformen lassen bislang auf sich warten.

Von kreativ hat niemand was gesagt

Während Carina das zweite Smartboard für über 2.000 Euro in ihrem Klassenraum montiert bekommt – und sich fragt, was sie nun mit zwei digitalen Tafeln anfangen soll – bröckelt in anderen Räumen der Putz von der Wand. Manchmal fällt auch ein Waschbecken. Nach kreativem Lernen fühlt sich das alles nicht an.

Gemeinsam reflektieren wir, wie sich Lernräume mit zunehmender Schulstufe verändern. In der Grundschule scheinen Beziehung und Bedürfnisorientierung noch eine Rolle zu spielen – dort darf Raum auch weich, bunt, kindlich sein. In der weiterführenden Schule hingegen dominiert ein steriles Bild: weiße Wände, karge Möbel, Technik, die selten genutzt wird. Spätestens ab Klasse fünf wird Lernen zur Einbahnstraße: Die Stühle sind frontal ausgerichtet, der Blick geht nach vorn zur Lehrkraft. Die physische Umgebung spiegelt das pädagogische Leitbild – und das ist häufig überholt.

„Ich sehe tolle Klassenzimmer auf Instagram – mit Leseecke, Pflanzen oder Sitzsäcken.
Bei uns gibt’s: Tisch, Stuhl, Tafel.“

Was viele nicht wissen:
Wenn es mal „etwas Schönes“ im Klassenzimmer gibt, dann wurde das meist von Lehrkräften selbst angeschafft – aus der eigenen Tasche oder über die Klassenkasse. Ein Bücherregal? Kein Standard, sondern persönliches Engagement.

Räume, die soziales Lernen und kreative Prozesse ermöglichen, sind rar. Dabei wäre genau das dringend nötig: Orte, die auch den unterschiedlichen Bedürfnissen von Schüler:innen gerecht werden – zum Beispiel denen, die Ruhe brauchen, oder solchen, die auf visuelle Reize besonders gut reagieren. Neurodiversität ist dabei längst kein Nischenthema mehr, sondern Grundbedingung für gelingenden Unterricht.

Und eigentlich müsste diese Diskussion nicht bei Schulen enden. Auch Universitäten sollten sich fragen, wie Räume gestaltet sein müssen, damit Lernen Kreativität entfaltet – und nicht wie eine reine Druckbetankung wirkt.

New Work nur möglich mit New School?

Während ich Carina zuhörte, stellte ich mir die Frage: Ist New Work eigentlich nur dann möglich, wenn sich auch Schule grundlegend verändert?

Basiskompetenzen wie Schreiben, Rechnen und Lesen werden selbstverständlich auch in Zukunft elementar bleiben. Und natürlich sind auch weiterführende Fächer wie Naturwissenschaften, Geschichte oder Sprachen entscheidend – sie eröffnen Perspektiven, wecken Interesse und können den Weg zu bestimmten Berufen bereiten. Doch, Hand aufs Herz: Unsere Arbeitswelt besteht aus mehr als nur MINT-Berufen.

Wie demokratisch kann unsere Vorstellung von Arbeit überhaupt sein, wenn Schüler:innen nie gelernt haben, kritisch und gleichzeitig empathisch zu denken? Wie sollen sie Verantwortung übernehmen, wenn ihnen niemand zeigt, was es bedeutet, Privilegien zu erkennen – und sie zu nutzen, um anderen den Weg zu ebnen? Wie können wir als "Arbeitskräfte der Zukunft" für unsere Rechte einstehen, wenn Gleichstellung in der Schule kein gelebtes Prinzip ist? Und wie sollen wir kreativ und lösungsorientiert denken, wenn schon der Klassenraum signalisiert: Think inside the box?

Ich verstehe gut, warum Carina gleich zu Beginn sagte, dass Lehrer:in eigentlich ein großartiger Beruf ist – wenn man daran glaubt, dass man bei jeder Klasse, bei jedem Kind vielleicht einen kleinen Samen pflanzen kann. Einen Gedanken, eine Haltung, eine Richtung. Natürlich sind Lehrer:innen nicht die einzigen prägenden Bezugspersonen. Eltern, Freund:innen, Vereine, Medien – all das formt junge Menschen mit. Aber Schule nimmt einen enormen Raum im Leben von Kindern und Jugendlichen ein. Und genau deshalb ist es so entscheidend, welche Werte dort vermittelt werden. Vielleicht kann genau dieser eine Impuls, der im Unterricht entsteht, später als innerer Kompass dienen – einer, der hilft, sich in einer komplexen Gesellschaft zurechtzufinden.

 

Über Carina

Carina ist Lehrerin an einer weiterführenden Schule in Nordrhein-Westfalen. Sie unterrichtet Englisch, Französisch und ab dem kommenden Schuljahr auch Kunst. Ihr Referendariat hat sie 2015 abgeschlossen, seit 2017 steht sie im Berufsleben. Sie ist angestellt, nicht verbeamtet – und gehört im Kollegium altersmäßig oft noch zur „jüngeren Generation”. 

 

FAQ: Lehrer:innenberuf – was viele nicht wissen

Wie werden Lehrer:innen-Stunden gezählt?


Der Unterricht ist Grundlage der Berechnung. Eine volle Stelle am Gymnasium NRW umfasst z. B. 25,5 Unterrichtsstunden. Pro Stunde wird aber mit dem Faktor 1,75 gerechnet – das umfasst auch Vor- und Nachbereitung. Doch: Viele Aufgaben wie Elterngespräche, Organisation, Projekte und Klassenfahrten fallen zusätzlich an und sind kaum messbar.


Warum haben Lehrer:innen angeblich so viel frei?

Die Ferien sind unterrichtsfreie Zeit – keine Freizeit. Korrekturen, Fortbildungen, Vorbereitungen finden in dieser Zeit statt. Viele Lehrkräfte arbeiten auch in den Ferien – meist unbezahlt.


Was ist das Deputat?

Das Deputat ist die Anzahl der vorgeschriebenen Unterrichtsstunden pro Woche. In NRW z. B. 25,5 Stunden am Gymnasium (Vollzeit). Alle anderen Aufgaben zählen nicht zum Deputat.

Was bedeutet Verbeamtung?

Verbeamtete Lehrer:innen haben mehr Sicherheit, zahlen weniger Sozialabgaben, erhalten aber z. B. kein Weihnachtsgeld. Angestellte Lehrer:innen verdienen weniger – für dieselbe Arbeit.


Was sind Entlastungsstunden?

Lehrkräfte können Entlastungsstunden erhalten, etwa für Klassenleitungen, Stufenkoordination oder zusätzliche Aufgaben. Diese Stunden reduzieren das Unterrichtsdeputat, ersetzen aber keine Bezahlung. Nicht jede Schule hat genug Spielraum, um Entlastungen zu ermöglichen – häufig hängt es am Schulbudget oder der Schulleitung.

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„Stell dir eine Krake vor, die unter Wasser mit acht Armen alles gleichzeitig regeln muss.“